Können Eltern zuviel lieben?
Adolf Matthias' Ratgeber "Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin" (1987)
von Uffa Jensen
"Daß unser Benjamin das lerne, daß er stark werde zu seinem Glück, dazu sollte unser Erziehungsbüchlein beitragen; es sollte die Kraft reinen Fühlens und Empfindens, festen Wollens und häufigen Vollbringens stärken in unserm Benjamin, damit er glücklich werde."1
Benjamins Glück war das Ziel des Ratgebers "Wie erziehen wir unseren Sohn Benjamin" von Adolf Matthias. Das Buch gab Eltern Ratschläge für die Erziehung ihrer Kinder vom ersten Tag an und deckte eine große Zahl von Themen ab: Temperament des Kindes, Intelligenz, Religiosität, aber auch die richtige Bestrafung bei schlechtem und angemessene Belohnung bei gutem Verhalten. Das letzte Kapitel des Buches widmete sich Benjamins Glück. Glücklich zu werden, war nicht leicht: der Junge musste stark genug sein. Dieses Ziel der Erziehung von Kindern – sie zu stärken für das Glücklichsein – weist auf eine machtvolle Tendenz in den Debatten über Kinder und Emotion im 20. Jahrhundert hin. Die negative Alternative wurde im Buch ebenfalls identifiziert: sie wurde als "Affenliebe" beschrieben. Danach liebten Eltern, die ihre Kinder verzärteln, zu viel.2
"Die Affenliebe kann nicht hart sein, nicht verwehren, nicht neinsagen für das wahre Glück des Kindes [...]. Die Affenliebe ermangelt jeden klaren Bewußtseins in Beziehung auf das Erziehungsziel; sie ist kurzsichtig; sie will dem Kinde wohl thun, aber sie wählt die falschen Mittel; sie läßt sich von augenblicklichen Empfindungen verleiten, anstatt sich von ruhiger Besonnenheit und Überlegung leiten zu lassen."3
Scheinbar war die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern auf ihr Kind gerichtet, aber dies war nur oberflächlich: "Affenliebe ist im Grunde nichts weiter als Selbstliebe, die keine Selbstverleugnung zum Besten des Kindes üben kann [...]."4 Diese Eltern waren nicht wirklich in der Lage ihr Kind zu erziehen, sie suchten nur den eigenen Trost und ihr Vergnügen. Der deutsche Lehrer Adolf Matthias veröffentlichte sein Ratgeberbuch "Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin?" erstmalig im Jahr 1897. Es wurde bis 1922 in 14 Auflagen herausgegeben. Der titelgebende Benjamin war nicht Matthias' eigener Sohn sondern eine exemplarische Figur, die aber durchaus Züge von Kindern hatte, mit denen Matthias als Vater und als Lehrer zu tun hatte. Das Buch war sowohl hinsichtlich des Inhaltes als auch in Design und Ausstattung ein für das 19. Jahrhundert typischer Ratgeber für das Bürgertum. Überdies betonte der Autor unablässig das bürgerliche Wertesystem, in dem er die Wichtigkeit von Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Prüderie und eine bestimmte Art einer bürgerlichen Frömmigkeit unterstrich. Der Text appellierte auch an die bürgerliche Geschlechterordnung. Die Leserschaft ist im Untertitel des Buches ausdrücklich benannt: Ein Buch für deutsche Väter und Mütter. Betrachtet man spätere Ratgeberliteratur fällt auf, dass Matthias direkt die Väter ansprach. Allerdings identifizierte der Text die verschiedenen Geschlechterrollen sehr deutlich und ordnete ihnen bestimmte emotionale Aufgaben zu: Die Väter stellten das Rollenmodell für Vernunft, Virilität und Stärke dar, während die Mütter Gefühle, Liebe und Fürsorge repräsentierten.5
Es überrascht nicht, dass Matthias das Problem der Affenliebe ebenfalls entlang dieser Geschlechterrollen beschrieb. Emotionaler Exzess fand nur statt, wenn ein Vater zu schwach war, den Einfluss der überfürsorglichen Mutter abzuwehren. Die Figur der "Affenmutter" als Quelle der Sorge tauchte schon seit der Aufklärung in den pädagogischen Debatten über Elternschaft und Kindererziehung auf und um die Jahrhundertwende nahm die Besorgnis noch zu. Interessanterweise bezog sich Matthias auf Alfred Brehms zoologische und anthropologische Erkenntnisse, denen zufolge das Verzärteln als (vermeintliches) Element der Brutpflege unter Affen galt. Während Matthias wollte, dass die Eltern mit gesundem Menschenverstand handelten, wenn es um ihr Kind ging, erschien wiederum ein zu viel von natürlichem Instinkt problematisch. Wie viel Liebe sollte ein Kind bekommen? Können Eltern zu viel lieben? Können die Emotionen der Eltern die Erziehung eines Kindes behindern? Die logische Schlussfolgerung aus Matthias' Ausführung musste sein, dass es nötig war, den Emotionen der Eltern (und besonders denen der Mütter) zu misstrauen und ihnen erzieherische Fähigkeit abzuerkennen. Eltern waren immer in Gefahr, ihre Kinder mehr zu lieben, als sie sollten. Sie waren immer zu wenig bereit, ihre Kinder stark genug für das Glücklichsein zu machen, sie abzuhärten. Diese Annahmen trugen dazu bei, Ratgeberliteratur als eine Autorität zu etablieren, die nicht nur Eltern mit nützlichem Wissen versorgte, sondern sie auch lehrte, den eigenen natürlichen Eingebungen zu misstrauen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts existierten somit nebeneinander sowohl ein die Abhärtung favorisierender Ansatz als auch ein Konzept, dass die Liebe ins Zentrum der Eltern-Kind-Beziehung stellte. Letzteres war von Matthias in seinen Ausführungen zur Affenliebe kritisiert worden.
In der Tat hatte bereits 1835 die viktorianische Autorin Elizabeth Gaskell versucht, die Erziehung ihrer erstgeborenen Tochter auf den Prinzipien von Liebe und Fürsorge basieren zu lassen. Sie protokollierte minuziös die Entwicklung ihres Babys und ihre eigenen Reaktionen in einem Baby-Tagebuch. Die Schattenseite dieser Erziehungspraktik waren jedoch Ängste. Ihre ständige Beobachtung brachte Gaskell dazu, sich über jedes kleine Detail im Verhalten des Kindes zu sorgen. Dadurch erzeugte "die Liebe, die wichtiger als jede irdische Liebe ist", wie sie diese Emotion beschrieb, auch eine "extreme Sorge über die Formung des Charakters ihrer kleinen Tochter".6 Diese Betonung der Liebe war ein bedeutender Bestandteil der Auffassungen über Kindererziehung und gewann in der Mitte des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit. Besonders bemerkenswert in diesem Kontext ist Benjamin Spock’s Common Sense Book of Baby and Child Care (1946), eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten: Mehr als 50 Millionen Exemplare wurden in mehr als 40 Sprachen verkauft und es gibt immer noch Neuauflagen.7 Für Kinder und Eltern wurden nun Emotionen, insbesondere Liebe, Vertrauen, Mitleid und ihre Bedeutung in der Eltern-Kind-Beziehung, die Alternative zur Affenliebe – eine Alternative, die wiederum neue Probleme und Schwachpunkte erzeugte. Diese beiden Modelle – Matthias‘ Abhärtung und Spock’s Liebe zum Kind – manifestierten sich in unterschiedlichen Ratschlägen für die Probleme, mit denen sich Eltern bei der Erziehung von Kindern konfrontiert sahen: Darf mein Kind körperlich gezüchtigt werden, wenn es sein muss? Soll mein Kind getröstet werden, wenn es unglücklich ist? Sollte mein Kind meinem täglichen Rhythmus folgen oder sollten sich die Eltern an die Bedürfnisse des Kindes anpassen? Sollte eine Mutter unter allen Umständen stillen? Und wie lange sollte sie das tun?
Seit dem Aufkommen psychologischer, psychiatrischer, pädagogischer und Ratgeberliteratur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Emotionen der Kinder immer ein prominentes Thema gewesen. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, Autoren von Belletristik und Ratgeber-Literatur, ein fasziniertes Publikum und insbesondere Eltern formten ein komplexes und interaktives System, in dem Wissen über Kinder und ihre Emotionen erzeugt und zirkuliert wurde. Ratgeberliteratur spielte bei dieser Weitergabe von Wissen eine besondere Rolle. Neben Gelehrten aus den Feldern der Pädagogik, der Psychologie oder der Psychiatrie, die ebenfalls Ratgeber in überraschender Menge schrieben, waren auch viele andere Berufsgruppen an der Produktion dieser Art von Literatur beteiligt, unter ihnen Theologen, Lehrer, Staatsangestellte oder Ärzte. Das Wissen über Kinder, das innerhalb dieser komplexen Zirkulationsprozesse erzeugt wurde, enthielt sehr viele Informationen über die Emotionen, die Kinder in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung haben sollten. Gleichzeitig half dieses Wissen auch Emotionen auf häufig sehr komplizierte Art und Weise zu produzieren, besonders auf Seiten der Eltern. Als der Begründer der Verhaltenspsychologie, John B. Watson sein Ratgeberbuch für junge Mütter – Psychological Care of Infant and Child (1928) – veröffentlichte, war seine Intention “der ernsthaften Mutter zu helfen, das Problem zu lösen, ein glückliches Kind aufzuziehen”.8 In seinen Augen hatte die "moderne Mutter" gerade erst begonnen zu verstehen, "dass das Aufziehen von Kindern der schwierigste Beruf" sei.9 Damit enthüllte Watsons Buch den zentralen Mechanismus der Ratgeberliteratur für Eltern: Elternschaft als fremdartig erscheinen zu lassen, Unsicherheiten zu säen und Verbesserung durch Ratschläge zu versprechen. Das "Jahrhundert des Kindes", wie Ellen Key es 1900 nannte, erzeugte damit Ängste über die Entwicklung von Kindern in einem beispiellosen Ausmaß.10
Für die Erforschung der Geschichte der Gefühle erfüllen Ratgeber einen wichtigen Zweck: Sie geben uns Hinweise darüber, welche Arten von Emotionen bei der Erziehung von Kindern zu verschiedenen historischen Zeiten und in verschiedenen Ländern als wichtig erachtet wurden. Es existiert sicher keine direkte Verbindung zwischen den Annahmen in dieser Literatur, wie Eltern ihre Kinder behandeln sollten, und dem konkreten Verhalten in realen Familien. Gefühlshistoriker können dennoch diese Texte nutzen, um Rückschlüsse auf den normativen Rahmen der emotionalen Erziehung von Kindern ("Emotionology") ziehen zu können. Gleichzeitig bieten die Texte der Ratgeber-Literatur noch etwas mehr: Sie zu lesen beeinflusste nicht nur den Umgang mit Kindern, sie beeinflussten auch die Emotionen der Eltern. Auf dieser Ebene ist diese Literatur mehr als nur ein normativer Rahmen. Sie reguliert auch Emotionen auf eine ganz bestimmte Weise.
Referenzen
1 Adolf Matthias, Wie erziehn wir unsern Sohn Benjamin? Ein Buch für deutsche Väter und Mütter (München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, 1897, 235.
6 J. A. V. Capple and Anita Wilson, ed., Private Voices: The Diaries of Elizabeth Gaskell and Sophia Holland (Keele: Edinburgh University Press, 1996), 50. Gaskell beschrieb diese Emotion mit den Worten: "the love which passeth every earthly love", und empfand auch eine "extreme anxiety in the formation of her little daughter’s character".
7 Benjamin Spock, The Common Sense Book of Baby and Child Care (New York: New York: Duell, Sloan and Pearce, 1946).
8 John B. Watson and Rosalie Watson, The Psychological Care of the Infant and Child (New York: W.W. Norton & Co., 1928), 14. ("to help the serious mother to solve the problem of bringing up a happy child")
9 Ibid., 16. ("that the rearing of children is the most difficult of all professions")
10 Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, übers. v. Marie Franzos (Berlin: S. Fischer Verlag, 1902).