"Angst ist eine Lüge". Emotion und Religion im "New Age"
von Pascal Eitler
"Unser Leben scheint voll von Trennungen, von Abspaltungen, von Loslösungen. Wir nehmen Abschied von jemandem. Wir beenden eine Beziehung. Die Kinder gehen aus dem Haus. […] Im Geburtsvorgang trennen wir uns - oder werden getrennt - von der Mutter. Und noch weiter zurückgedacht: Irgendwann einmal, irgendwie einmal hat sich unser Geist von Gott getrennt. Und mit jeder Trennung erleben wir - bewusst oder unbewusst - Trennungsschmerz. […] Die Tür hinter uns schließt sich allmählich, die Verbindung zur Quelle wird nebelhaft […] und damit beginnt die Angst." (9-10) Angst, so Chris Griscom 1988 in ihrem diesseits und jenseits des Atlantiks mehrfach wieder aufgelegten Ratgeber "Die Heilung der Gefühle," sei nicht nur eine, sondern die "Uremotion" des Menschen (21).1 Griscom versuchte mit ihrem Ratgeber jedoch nicht nur, ihrer Leserschaft diese "Uremotion" anschaulich vor Augen zu führen und im vermeintlich größeren Zusammenhang verständlich zu machen. Sie bemühte sich zudem und vor allem um eine Überwindung dieser Angst, der Angst eines angeblich jeden Menschen vor diesem Getrenntsein, vor dem Alleinsein. Und sie eröffnet in diesem Rahmen einen guten Zugang zur Bedeutung von und zum Umgang mit Gefühlen innerhalb des sogenannten "New Age" zwischen Anfang der siebziger und Ende der achtziger Jahre.
Als "New Age" wurde damals sehr häufig eine Gemengelage von religiösen, medizinischen, ästhetischen, politischen oder wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Praktiken und Diskursen, Akteuren und Organisationen, bezeichnet und beworben, die gleichzeitig um einen Auftrag zur "Selbstverwirklichung" und einen Anspruch auf "Ganzheitlichkeit" kreiste und diesbezüglich vor allem den Körper und die Gefühle ins Zentrum ihres Interesses rückte.2 Chris Griscom war in den siebziger und achtziger Jahren zwar keine der omnipräsenten Referenzfiguren des "New Age", so wie Marilyn Ferguson oder auch Fritjof Capra, zählte jedoch unter den bekannteren Namen zu denjenigen, die sich besonders intensiv und auf sehr charakteristische Art und Weise mit der Bedeutung der Gefühle beschäftigten - unter anderem auch als Gründerin und Leiterin des "Light Institute", einer "ganzheitlichen" Begegnungsstätte und Heilanstalt in New Mexico.3 Gerade insofern die Bedeutung der Gefühle im bzw. für das "New Age" und seine Anhängerinnen und Anhänger außer Frage stand, widmeten sich zahlreiche andere Ratgeber den Gefühlen in der Regel weniger ausführlich, sondern eher beiläufig und wie selbstverständlich. "Die Heilung der Gefühle", die Griscom in ihrem Ratgeber sehr gezielt in Aussicht stellte, zielte dabei auf zweierlei: Bestimmte Gefühle - wie jene Angst - sollten schnellst möglich "geheilt" werden; andere Gefühle hingegen vermochten die Menschen angeblich - von eben dieser Angst - zu "heilen" und wieder "heil" zu machen, "ganz" zu machen. Wie üblich innerhalb des "New Age" wurden Emotionen dabei als Energien bzw. "Energieformen" begriffen, die das auszuformen schienen, was Griscom als "Emotionalkörper" bezeichnete - das Ergebnis einer "Trennung unseres Ichs vom göttlichen Selbst." Der "Emotionalkörper" und die Gefühle des Menschen entstünden und entwickelten sich im Kontext bzw. in Reaktion auf diese Trennung und alle dann scheinbar folgenden Trennungen. (13, 136) Die Angst, die daraus immer bedrückender hervorgehe, mache die Menschen auf Dauer krank und entfremde sie zunehmend voneinander - nicht nur persönlich, sondern ausdrücklich auch politisch. "Die Heilung der Gefühle," so Griscom, sei jedoch möglich: "Angst kann als eine Lüge des Emotionalkörpers entlarvt werden." (123) Denn tatsächlich sei diese erste, angeblich alles entscheidende Trennung, die "Abspaltung des Einzelbewußtseins vom Einheitsbewußtsein," umkehrbar, überwindbar und letztlich eben sogar eine "Lüge." Die Menschen hätten lediglich vergessen bzw. verlernt mit jenem "göttlichen Selbst," ihrem "höheren Selbst," gezielt bzw. bewusst in Kontakt zu treten. (26, 29). Es gehe nicht darum, "dass man Gefühle unterdrückt oder verdrängt", vielmehr gehe es darum, "höhere Gefühle zu entwickeln" und sich von "dunklen Gefühlen" wie jener Angst langfristig zu befreien: "Wenn das Herz voller Glück ist, schwingen sich die Gefühle in nie geahnte Höhen hinauf". (109, 195) Dieses Glück erschließe sich allerdings nur denen, die "über sich selbst hinausgehen oder tiefer in sich selbst hineinspüren" und dergestalt - zum Beispiel im Rahmen von Meditationsübungen - "Teilhabe an einer Ganzheit" fänden, "die größer [sei] als das Ich". (195, 89)
Die "Suche" nach "Ganzheit", nach einer "neuen alten Ganzheit", wie Griscom sie beschrieb und bewarb, avancierte zu einem der zentralen Charakteristika des "New Age" - die "Suche" nach einer als "religiös", "spirituell", "mystisch", "kosmisch", oder auch "emotional" ausgewiesenen "Ganzheitlichkeit".4 In eben diesem Sinne sprach Griscom von der "Re-ligion" (sic!) des "New Age" als einer "Rück-verbindung" (sic!) (26). Und vor eben diesem Hintergrund gilt es das Titelbild ihres Ratgebers zu verstehen: ein Kreis als Zeichen für "Ganzheit" und "Heilung." Das "New Age" zielte in diesem Sinne gerade nicht - wie häufig behauptet - auf eine Individualisierung der Menschen oder der Gefühle, sondern - geradezu umgekehrt - auf eine Sakralisierung und Emotionalisierung des Selbst: "Es geht um Selbstverwirklichung, nicht um Egoismus" (165). Und diese "Selbstverwirklichung" galt es eben stets "ganzheitlich" zu erfahren und zu befördern, nicht im Rahmen traditioneller Individualitätsvorstellungen, sondern im Zuge phantasmatischer Authentizitätsansprüche, die den Menschen eine "Suche" nach ihrem "wahren", "echten", "höheren" Selbst abverlangten bzw. zumuteten, die notgedrungen unabschließbar bleiben musste. Denn vermittels unterschiedlicher Praktiken bzw. Techniken ließ sich die angestrebte "Ganzheitlichkeit" immer wieder anders und - so die Vermutung und Hoffnung - immer besser begreifen bzw. erspüren. "Die Heilung der Gefühle" durch "Ganzwerdung" glich daher tatsächlich einem niemals abschließend zu erfüllenden Auftrag. Rückschläge und Fehlversuche waren gewissermaßen vorprogrammiert. Beiläufig gab dies auch Griscom selbst zu erkennen: "Der Prozeß der Ganzwerdung ist üblicherweise recht verwickelt und langwierig". (180) Das Selbst sollte zwar, konnte aber letztlich stets nur unzureichend "verwirklicht" werden und wurde in diesem Zusammenhang tatsächlich überhaupt erst - als stets ergänzungsfähiges, stets entwicklungsbedürftiges Selbst - produziert und profiliert.
Das "New Age" lieferte in den siebziger und achtziger Jahren demnach zahlreiche Argumente und vermittelte darüber hinaus auch unterschiedliche Instrumente, um permanent und intensiv an sich "selbst" und den "eigenen" Gefühlen arbeiten zu können und zu müssen: von Meditationsübungen oder Hypnosemaßnahmen zu Entspannungstechniken und Gruppentherapien. Und da auf dieser "Suche" im wahrsten Sinne des Wortes der Weg das Ziel war, kannte diese Arbeit kein Ende. In den achtziger Jahren gewannen diese Argumente und Instrumente nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland immer stärker an medialer Präsenz und öffentlicher Verbreitung. Aus dem zahlenmäßig noch überschaubaren Alternativmilieu strömten sie dabei breitenwirksam in die sogenannte Mehrheitsgesellschaft und erfuhren in der Gestalt von Yogakursen, Heilpraktikern und Paarpsychologen, Bioläden oder Kreativseminaren eine ebenso vielfältige wie nachwirkende Aneignung. Deutlich wird an dieser Stelle, wie engmaschig die Zeitgeschichte der Gefühle mit der Zeitgeschichte des Selbst verknüpft war und dass das "New Age" in diesem Kontext durchaus eine wichtige Rolle einnahm.5 Der Ratgeber "Die Heilung der Gefühle" blieb vor diesem Hintergrund nicht der einzige und er war auch nicht der erste seiner Art, das "New Age" entfesselte vielmehr eine regelrechte Flut von Ratgebern, die sich der Gefühle im Besonderen ebenso annahmen wie dem Körper im Allgemeinen, der Medizin oder der Politik. Stets standen dabei "Selbstverwirklichung" und "Ganzheitlichkeit" im Zentrum des Interesses.6
Man sollte aus derartigen Ratgebern zwar nicht schließen , dass es den Ratsuchenden stets gelungen wäre, ihre Gefühle in nie geahnte Höhen hinaufzuschwingen - doch konfrontierten sie ihre Leserschaft permanent mit dem Erreichen von diesen oder dem Bekämpfen von jenen Gefühlen und entfalteten ein beständig wachsendes Reservoir an Praktiken bzw. Techniken, um jene "innere Verbindung zum höheren Selbst" vermeintlich wieder herstellen und verfestigen zu können - Scheitern und Enttäuschung inklusive. (83) In diesem Sinne eröffnen Ratgeber wie "Die Heilung der Gefühle" genau genommen weniger einen Einblick in das doing emotion als in das trying emotion.7 Trying emotion meint in diesem Fall zweierlei: Die pausenlos angepriesenen "höheren Gefühle" konnten in aller Regel nicht oder nur sehr kurzfristig realisiert, geschweige denn stabilisiert werden; doch die Anhängerinnen und Anhänger des "New Age" sollten eben dies nichts desto trotz pausenlos versuchen.
Referenzen
1 Chris Griscom, Die Heilung der Gefühle. Angst ist eine Lüge (Gütersloh: Bertelsmann, 1988) (engl.: The Healing of Emotion. Awakening the Fearless Self (Galisteo: Light Institute, 1990)).
2 Für einen Überblick siehe James Lewis and Gordon Melton, eds., Perspectives on the New Age (Albany: State University of New York Press, 1992); Christoph Bochinger, New Age und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen (Kaiser: Gütersloh, 1994); Wouter Hanegraaff, New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought (Leiden: Brill, 1996); Daren Kemp and James Lewis, eds., Handbook of New Age (Boston: Brill, 2007).
3 Siehe auch www.lightinstitute.com [29.05.2013].
4 Siehe auch Paul Heelas, The New Age Movement. The Celebration of the Self and the Sacralization of Modernity (Oxford. MA: Blackwell, 1996); Pascal Eitler, "Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im 'New Age' (Westdeutschland 1970-1990)," Zeithistorische Forschungen 4 (2007): 116-136; Franz Höllinger and Thomas Tripold, Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur (Bielefeld: transcript, 2012).
5 Im Fall der Yoga classes siehe auch Jennifer Lea, "Liberation or Limitation? Understanding Iyengar Yoga as a Practice of the Self," Body and Society 15 (2009): 71-92.
6 Siehe auch Sven Reichardt and Detlef Siegfried, eds., Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2010); Sabine Maasen et al. (eds.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den 'langen' Siebzigern (Bielefeld: transcript, 2011).
7 Pascal Eitler and Monique Scheer, "Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert," Geschichte und Gesellschaft 35 (2009): 282-313, 293.